Nach wirklich großen sizilianischen Schriftstellern gefragt, wird einem neben Tomasi di Lampedusa („Der Leopard“) und Luigi Pirandello (Nobelpreis 1934) zwangsläufig auch Leonardo Sciascia (sprich: Scháscha) in den Sinn kommen.

Wie sehr er sein Sizilien liebte, ist seinen Erzählungen zu entnehmen, allen voran Gli zii di Sicilia (dt. Sizilianische Verwandtschaft), und deshalb umso verständlicher sein Abscheu gegenüber dem Krebsgeschwür der Gesellschaft, die seine Insel über Jahrhunderte hinweg beutelte: die Mafia.

So schrieb er 1972 anlässlich einer Neuauflage seines Romans Il giorno della civetta (dt. Der Tag der Eule):

„Aber die Mafia war und ist etwas Anderes: Ein ‚System‘, das in Sizilien die wirtschaftlichen und politischen Interessen in den Händen hält, gelenkt von einer Klasse, die wir mit besten Wissen bürgerlich nennen können; und sie taucht nicht auf und entsteht im ‚Vakuum‘ des Staates (d.h., wenn der Staat mit seiner Justiz und seinen anderen Funktionen schwach ist oder ganz fehlt), sondern ‚innerhalb‘ der Staates.

Die Mafia ist also kurzgefasst eine parasitäre Bourgeousie, die nichts schafft, sondern nur ausnutzt.“

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Und wie gut Sciascia sie kannte, die ehrenwerte Gesellschaft, und wie eindringlich er sie beschreiben konnte, bewies er unter anderem mit der köstlichen Erzählung Filologia, in der sich zwei Mafiosi in einem Diskurs über die Herkunft des Wortes Mafia und seiner ursprünglichen Bedeutung verlieren und dabei ganz von ihrem eigentlichen Thema abkommen, nämlich wie sie sich vor dem ihnen drohenden gerichtlichen Untersuchungsausschuss drücken könnten.

Von ganz anderem Kaliber sein überaus spannender Kriminalroman A ciascuno il suo (dt. Tote auf Bestellung), der, wie schon die Übersetzung des Originaltitels – Jedem das Seine – ahnen lässt, den kalten Zynismus dieses ‚Systems‘ beschreibt, in der lebensferne, naive Professore Laurana mit seinen unbedarften Nachforschungen in das Fadenkreuz der Mafia gerät – und für immer verschwindet. Daraus der Schluss:

Alle drei lachten. Dann meinte Zerillo:

„Ich habe eine Sache in Erfahrung gebracht, eine Sache, die zwischen uns bleiben muss, ich bitte euch … es betrifft den armen Kerl Laurana …“

„Er ist ein Trottel gewesen“, erwiderte Don Luigi.

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Dass Sciascia nicht selbst ins Fadenkreuz der Mafia geraten ist, mag einen geradezu verwundern, hat er in den 60ern als erster und einziger unter den italienischen Literaten dieses heikle Thema angefasst, entgegen der omertá, und das zu einer Zeit, als es noch die offizielle Lesart Italiens war, dass es die Mafia überhaupt nicht gibt.

Dass es sie doch gibt, wurde spätestens mit den verheerenden Anschlägen Anfang der 90er der gesamten Welt vor Augen geführt, die in der Ermordung der beiden Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino gipfelten; Ereignisse, die in der damals auch bei uns äußerst erfolgreichen Fernsehserie La piovra (dt. Allein gegen die Mafia) mit Michele Placido verarbeitet worden sind.

Vielleicht mag heutzutage, nach aufsehenerregenden Prozessen und scharfen Antimafia-Gesetzen, die Allmacht der sizilianischen Mafia eingeschränkter sein (und ihr die kalabrische ‚Ndrangheta an Gefährlichkeit und Brutalität den Rang abgelaufen haben, man denke nur an das Massaker von Duisburg 2007) – dass es sie im 21. Jahrhundert nicht mehr gibt (wenn auch für den gewöhnlichen Reisenden unsichtbar) ist eine Erfindung der Tourismusbranche.

Aber erfreulicherweise ist mittlerweile eine Generation junger, zorniger Sizilianer herangewachsen, die den anachronistischen Zuständen auf eigene Gefahr hin die kalte Schulter zeigt. Auf eine ihrer Initiativen sei an dieser Stelle hingewiesen: Addiopizzo („Tschüss Schutzgeld“):

Addiopizzo
Logo von Addiopizzo

Wer also dieses Logo auf einem Geschäft in Palermo entdeckt: Hier einkaufen, hier sind die Guten!

 

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Deutschsprachiges findet sich wenig zu Leonardo Sciascia im ansonsten so geschwätzigen Netz, selbst Wikipedia erweist sich als erstaunlich mundfaul zu diesem Thema. Hier die spärliche Ausbeute (wenigstens in Italien ist er unvergessen):