… erwähnenswert außerdem die Piazza del Municipio, die den eindrucksvollen Palazzo Municipale beherbergt, einschließlich des überdachten Stiegenaufgangs, des Scalone d’Onore aus dem späten fünfzehnten Jahrhundert, aber eigentlich ist es die ungebändigte Horde abgestellter Fahrräder davor, die wahre Aufmerksamkeit verdient.

Kein Zweifel, in dieser Stadt wird geritten. Früher zu Pferd, heute zu Drahtesel. Denn auch jetzt, wo ich mich inmitten dieser ehrwürdigen Piazza befinde, scheine ich der einzige zu sein, der auf seinen eigenen zwei Beinen auf festem Boden steht, all die anderen schweben auf Stahlrahmen mit zwei angesteckten Rädern dahin. Links und rechts umschwirren die Fahrradfahrer mich, kunstfertig wie Vögel vermeiden sie einen Zusammenstoß in letzter Sekunde, weichen mir aus, weichen sich aus, ganz schwindlig dabei wird mir zumute.

Zum nächsten Café am Platz flüchte ich mich, aber auch hier ein vielsagendes Bild: Zwei, vielleicht drei Gäste besiedeln die Tische, aber davor lungert ein Rudel von zumindest zwanzig Fahrrädern herum. Einen Reim versuche ich als unwissender Fremder auf dieses Missverhältnis zu machen: etwa Nebenfahrräder, Zweitfahrräder, Ersatzteilfahrräder?

Es ist der Espresso, der mir dazu verhelfen sollte, mich in meine Rolle als Reisender zurückzufinden, der Notizen erweiterter Kulturerkenntnis in sein Reisetagebuch schreibt, über diese Stadt, veredelt mit dem Siegel eines Weltkulturerbes, über die spätmittelalterliche Stadtplanung hier, erdacht von Fürst Ercole I. d’Este, umgesetzt vom Hofarchitekten Biagio Rossetti, aber so ganz anders fällt mein erstes Resümee aus:

Wer hier nicht ein Fahrrad reitet, hat entweder ein schweres Beinleiden, oder den plagen Gleichgewichtsstörungen, kurz gesagt, ein Fußgänger gilt hier als Behinderter. Manchmal wird ein Fahrrad auch geschoben, das gilt dann als besonders bedauernswert, ein behindertes Fahrrad. Die einzigen Fußgänger hier sind also entweder Behinderte, Betrunkene oder – noch schlimmer – schlichtweg Touristen. Wie ich, füge meinen Gedanken noch hinzu.

Auf zu neuen Abenteuern, in dieser Stadt gibt es noch viel zu erkunden und zu entdecken, beispielsweise das Wasserschloss Castello Estense inmitten der Stadt, den Palazzo dei Diamanti mit seiner eigenwilligen Marmorfassade, ach ja, einen sehenswerten Dom soll es hier noch geben, kein Weltkulturerbestempel für eine italienische Stadt ohne ordentlichen Dom.

Sehenswert auf meinem Weg ist allerdings die Alte, die sich auf dem Stock über den Gehsteig hinschleppt, dem Fahrradstellplatz entgegen; keine Minute später gleitet sie stolz auf ihrem Drahtesel dahin, was für ein Jungbrunnen so ein Fahrrad. Haben mich meine Augen getäuscht, aber es ist mir gerade so vorgekommen, als hätte ich in der Nebengasse ein Fahrrad mit einem Kühlschrank auf dem Gepäckträger vorbeihuschen sehen. Nein, wird wohl nur eine Waschmaschine gewesen sein.

Dann der Dom, der auf den schönen Namen Cattedrale di San Giorgio hört. Ein riesiger Kasten von außen, prächtigste Romanik die Frontfassade, und riesig auch innen, italienischer Barock vom Feinsten.

Auffallend viel los hier drinnen, offensichtlich beliebt bei den Touristen. Oder deute ich ihre edlen kulturellen Absichten falsch, dient ihnen der Dom vielleicht nicht vielmehr als Zuflucht und Asyl, vermeine ich doch etwas Verschrecktes in ihren Augen zu lesen, eine Art von Fahrradphobie? Bici-fobia, so würde das Wort dann wohl auf Italienisch heißen, und wenn es dieses Wort noch nicht gibt, dann wird es in dieser Stadt erfunden werden. Nun selbst leicht aufgewühlt entzünde ich ein Seelenfrieden spendendes Kerzlein am Seitenaltar, erst dann wage ich mich zurück in die freie Wildbahn.

Versöhnt mit mir selbst nach einem üppigen Abendmahl – empfehlenswert die cappellacci di zucca, und das panpepato sowieso ein Gedicht – besitze ich nun die nötige Muße, mich dem Treiben auf den Straßen und Plätzen in Abendstimmung mit eingehender Aufmerksamkeit hinzugeben. Auch hier geht es um Sehen und Gesehen werden, wie es typisch ist für jede italienische Stadt, das abendliche Aufeinandertreffen von Freunden, Kollegen und der Familie.

Aber hier natürlich nicht ohne das unvermeidliche Fahrrad, soviel habe ich mittlerweile gelernt, und deshalb auch keine gepflegte Unterhaltung ohne die Hände auf der Lenkstange. Begleitend zum übereinstimmenden „sì“ wird mit dem Vorderrad gewackelt, das ablehnende „no“ wird mir einem traurigen Neigen des Vorderrads in Richtung des Asphalts unterstrichen. „Wollen Sie mit mir schlafen?“ hat wahrscheinlich ebenfalls seine eigene Vorderradsprache, aber so weit bin ich als Fremder noch nicht des Fahrraditalienischen mächtig.

Vor der Haustür zu meinem Quartier treffe ich noch auf meinen Vermieter, ich kann’s nicht lassen, meine über den Tag aufgestauten Fahrraderlebnisse muss ich bei ihm loswerden.

„Ja, ja“, beschwichtigt er mich, „auf jedes gestohlene Rad hier kommen zwei andere.“

Und damit schwingt er sich auf sein eigenes grünes Fahrrad, von dem ich hätte schwören können, dass es heute Vormittag noch rot gewesen ist. Die Hand hebt er mir zum Abschied hinterher, dann ist er schon um die Häuserecke entschwunden; ob Dieb oder Geschädigter oder gar beides, diese Einschätzung bleibt allein mir überlassen.

Unruhige Träume plagen mich des Nachts, aufwühlende Bilder eines Palio ziehen an mir vorüber, allerdings nicht mit Pferden wie der Klassiker in Siena, sondern mit Fahrrädern, die im Hindernislauf vorbei an beweglichen Zielen rauschen, verschreckten Fußgängern wie mich. Würde dieser Sport jemals zur olympischen Disziplin erkoren werden – keine Frage, die Helden aus Ferrara würden sie gewinnen, vier unter den ersten drei. Und als Siegerhymne würde ihnen nur ein Lied gerecht werden:

 

Weiterlesen